„Seelischen Halt geben“, wo Sicherheit nicht sein kann, oder nicht ist…

beschreibt meine Haltung als Psychoonkologin und diese versuche ich in meiner Funktion als Psychologische Leitung der Abteilung „Psychoonkologie am Uniklinikum Frankfurt am Main“, als Ausbilderin in der praktischen Arbeit, in der Lehre und Fortbildung immer wieder zu vermitteln. Neugierig, dann lesen Sie hier weiter!

Bevor ich Ihnen einen ersten kleinen Einblick gebe, was ich unter „Seelischen Halt geben“ verstehe, stelle ich mich Ihnen vor:

Mein Name ist Bianca Senf. Ich habe vor gefühlten 100 Jahren Psychologie und Soziologie studiert und als approbierte Psychotherapeutin vor über zwanzig Jahren bei der Deutschen Krebsgesellschaft begonnen, mit Krebspatienten und ihren Angehörigen zu arbeiten.

Das ich als approbierte Psychotherapeutin in der „Psychoonkologie“ gelandet und noch wichtiger: dort auch geblieben bin, könnte ich als Zufall beschreiben. Könnte, wäre nicht eine für mich wichtige Frage während meiner psychoonkologischen Ausbildung gestellt worden, nämlich: „Welche persönlichen Erfahrungen haben sie mit dem Thema Krebs in ihrer frühen Kindheit oder Jugend gemacht?“ Ich wurde zunächst, trotz intensiven Nachdenkens überhaupt nicht fündig. Doch die Frage haftete an mir wie eine Klette und dann, als wäre ein Ventil geöffnet worden, erinnerte ich mich an viele verschiedene Ereignisse und Situationen. Ich bin heute noch erstaunt, wie oft ich dem Thema Krebs und Todesangst begegnet bin und zwar lange bevor ich bewusst entschied, Krebspatienten und ihre Angehörigen zu unterstützen. Und so möchte ich Ihnen an einem konkreten Beispiel aus meiner „Erinnerungskiste“ das Thema „Halt geben, wo Sicherheit nicht sein kann“, so wie ich es verstehe, verdeutlichen.

Ich war ungefähr 12 Jahre alt, als die Mutter meiner besten Freundin urplötzlich, so kam es mir vor, ins Krankenhaus musste. Eine Operation stand an. Irgendetwas an der Brust wäre nicht in Ordnung, sagte man mir. Wir besuchten die Mutter meiner Freundin im Krankenhaus und sie sagte: „Wollt Ihr mal sehen?“ Neugierig, wie Kinder sind, die nicht wissen, was vor sich geht, sagten wir „Ja“. Die Mutter meiner Freundin zog umgehend ihr Nachthemd hoch und präsentierte uns eine hässliche, tiefrote lange Narbe an der Stelle, wo zuvor ihre Brust war. Ich schwankte zwischen Neugier und Entsetzen. Krebs sollte die Krankheit heißen. Krank geworden sei sie, weil sie sich an ihrer Brust gestoßen habe. Noch heute ist es so, dass mir dieser Satz in den Kopf schießt, wenn ich mich im Brustbereich stoße. Da arbeitet unser Gehirn, in dem diese Erfahrungen ein Leben lang aufbewahrt werden, sehr zuverlässig. In der Folge gingen viele Gerüchte herum, warum die Mutter meiner Freundin an Krebs erkrankt war. Das beunruhigte mich sehr. Ich hatte Angst, dass meine Mutter auch erkranken und schlimmer noch, sterben könnte.

Meine Mutter beruhigte mich. Der Arzt habe ihr gesagt ihr: „Sie sind kein Krebs- Typ, Sie werden nie Krebs bekommen“. Das beruhigte nicht nur meiner Mutter ungemein.

Die Mutter meiner Freundin hatte Angst, das bekam ich mit. Sie fing an zu trinken, das beruhige die Nerven meinte sie. Positiv denken müsse man, dann würde alles gut. Nichts wurde gut. Die Familie meiner Freundin zersplitterte langsam aber sicher. Der Vater begann ebenfalls zu trinken, die Geschwister meiner Freundin hatten Probleme in der Schule und meine Freundin wurde aus meiner Perspektive sehr eigen.

Ein Jahr später, ich war zu dieser Zeit in einem Internat, wurde ich von der Oberin gerufen. Ich solle mich umgehend „gemessen“ ankleiden. Ich würde abgeholt, ich müsse jetzt nach Hause. Näheres wollte man mir nicht mitteilen um mich nicht zu beunruhigen. Man kann sich leicht vorstellen, in welche Panik ich geriet.

Dann erfuhr ich, dass die Mutter meiner Freundin an ihrem Krebs verstorben sei und wir jetzt zur Beisetzung gingen. Ich war fassungslos. Mit meiner Freundin sollte ich über das Geschehen nicht sprechen, da es sie sonst zu sehr belaste. Ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen können. Ich war selbst im Schock und hilflos. Die Familie meiner Freundin hatte jeden Halt verloren. So etwas wie die gewohnte „Normalität“ gab es nicht mehr und sie sollte auch nicht mehr wieder erlangt werden. Soweit diese und auch ein Teil meiner Geschichte.

Die darin enthaltenen Themen, vor allem das Nicht-Sprechen-Können, Sprechverbote, emotionale Belastung durch unrichtige Informationen (Krebsursachen), Durchhalteparolen (positiv denken) und die Belastung der Angehörigen, vor allem der Kinder ist dass, was wir tagtäglich in unserer Arbeit erleben.

 

Wie kann man als Außenstehender, als sogenannter „Profi“ in einer solchen Situation emotionalen Halt geben? Was tun wir konkret? Wie kann man sich ein psychoonkologisches Gespräch vorstellen?

 Unser wichtigstes „Instrument“ sind, das mag manchen verwundern, die Ohren. Es geht nämlich erst Mal ums sehr genaue zu-hören und hin-hören. Nur im genauen hinhören kann „man“ erfahren, was diesen einen bestimmten Menschen am stärksten belastet, was ihn am meisten bedrückt. Und auch so erfährt man nur, wo seine eigenen Kraftquellen, seine eigenen Kompetenzen, mit schwierigen Situationen umzugehen liegen. Erst wenn wir dies genau verstanden haben können wir Ansätze entwickeln, wie wir entlasten und den Patienten seelisch stabilisieren können.

Ein häufig genanntes Problem unserer Patienten ist beispielsweise die Sorge um ihre Angehörigen. Wenn Krebspatienten Kinder haben wie oben in meinem Fallbeispiel geschildert, gilt die größte Angst der Betroffenen ihren Kindern. Die Angst und der Kummer, das eigene Kind womöglich alleine zurück lassen zu müssen, schnürt im wahren Sinne des Wortes, die Kehle zu. Hier sehe ich eine mir sehr wichtige Aufgabe der Psychoonkologen und allen, die in diesem Bereich tätig sind. Aufklärung beispielsweise über das, was Kinder in der entsprechenden Altersstufe begreifen und was nicht, wie man wann mit ihnen sprechen, welche Worte man gebrauchen kann, dass muss den Betroffenen vermittelt werden. Oft ist dann die Funktion des Psychoonkologen die eines „Übersetzters“. Die Sprachlosigkeit überwinden helfen stärkt den Patienten und ist ein „Puzzel“ des „Halt“ gebens.

Ein anderes, wichtiges Thema betrifft das Thema der Frage nach dem Warum. Warum ich? Es gibt doch viele Krebspatienten, die sich von der Warum-Ich-Frage nicht lösen können oder aber auch nicht lösen möchten. Nicht selten verzweifeln sie darüber und können ihren Alltag nicht mehr wirklich „leben“. Sie verlieren über diese Frage das, was jetzt, in diesem Augenblick im Leben hält. Hier versuchen wir, immer vorausgesetzt, der Betroffene möchte das auch, in einen Klärungsprozess einzusteigen. Das Ziel ist hier, sich mit dem Geschehenen so zu arrangieren, dass das Erleben, das Leben, so kurz es möglicherweise auch sein wird, nicht in der Verzweiflung und in der Frage des Warum stecken bleibt. Diese Arbeit hat viel mit dem Thema „Sinn“ des Lebens und Sinnfindung zu tun. Dazu habe ich einmal diesen Aphorismus gefunden:

Wenn Sie das Leben kennen, geben Sie mir doch bitte seine Anschrift. (Jules Renard)