Ich sage es lieber gleich: Sie müssen jetzt sehr tapfer sein. Möglich nämlich, dass Ihnen hier ein paar Illusionen geraubt werden. Möglich aber auch, dass sie lieber daran festhalten wollen. Damit befinden Sie sich in bester Gesellschaft. Den allermeisten geht es so. Sie sagen dann: „Ich verstehe das. Irgendwo muss der Schmerz, müssen die Trauer und die Wut ja hin!“ wenn ich von den Erfahrungen meiner Familie erzähle. Davon, was einem auf einer Palliativstation auch passieren kann. Alle haben wirklich Verständnis. Aber sie sagen auch, unsere Einschätzung sei ganz sicher getrübt durch den Verlust meiner Mutter. Und wenn erst noch ein wenig mehr Zeit vergangen sei, würden wir das bestimmt auch so sehen. So schlimm könne es nämlich gar nicht gewesen sein. Also sicher nicht auf einer Palliativstation. Schließlich sei es doch deren Grundidee, dort Schwerstkranke in Fürsorge, Geduld, Mitgefühl, Interesse, Verständnis und der Wirkung von ein paar 1-A-Schmerzmitteln wie in einem Mantel zu umfangen. Es handele sich also ganz klar um ein Epizentrum des Grundguten,  der Heiligenschein sei praktisch schon in der Arbeitsplatzbeschreibung mit eingebaut. Das dachten wir auch, als meine Mutter, an einem Glioblastom Grad IV erkrankt und nach einem Hirnschlag halbseitig gelähmt, nach einem längeren Bestrahlungszyklus, in solch eine Station überwiesen wurde, die keine Station der Uni-Klinik war.  Das dachten wir auch noch, nachdem wir am ersten Tag stundenlang gewartet hatten, bis sich dort jemand um meine Mutter kümmerte, die sich erbrochen hatte, die dann acht Stunden in vollen Windeln lag und mindestens so lange keine Nahrung bekam. Und dann wollten wir es noch lange nicht glauben, dass passiert, was uns passiert. Bis wir erlebten, wie bis zu fünf Stunden niemand in das Einzel-Zimmer meiner Mutter kam, um nach ihr zu sehen.  Wie man sie in vollen Windeln, verschleimt und in derselben unbequemen Haltung so lange liegen ließ. Wie sich niemand wirklich um die Probleme mit der Nahrungszufuhr kümmern wollte und meine Mutter viel zu wenige Kalorien bekam. Wie es ewig dauerte, bis man mal eine Krankenschwester herbeigerufen hatte und noch länger, bis man mit einem Arzt sprechen konnte und wie meine Mutter von Tag zu Tag tiefer in einen Dornröschen-Schlaf versinkt. Bis sie ihre Augen gar nicht mehr öffnen kann, kaum ansprechbar ist. Die ganze Station scheint sich in diesem Dornröschenschlaf zu befinden. Nie ist jemand auf dem Gang zu sehen oder im Gemeinschaftsraum. Es ist überhaupt seltsam unbelebt dort. Wie seltsam, das weiß ich erst, seit ich die Palliativstation an der Frankfurter Uniklinik besucht und gesehen habe, wie ungeheuer vital und auch mobil todkranke Menschen sein können. Wir fragten die Ärztin damals,  ob unsere Mutter vielleicht ruhig gestellt wurde, ob man ihr Mittel verbreicht, die diese Wirkung haben können. Sie reagiert empört und verneint entschieden. Später finden wir ein Medikament auf der List, von dem es heißt, es sei „schlafanstoßend“. Es wurde – so sagt uns der Hausarzt später, in beeindruckender Menge vergeben. Nach zehn Tagen haben wir genug. Wir holen meine Mutter dort raus. Vorzeitig. Statt zu fragen, was uns zu der Entscheidung bewog, ist die Ärztin beleidigt, als wir den Aufenthalt in ihrem Hoheitsbereich verkürzen. Ganz so, als hätten wir gerade vier Wochen Karibik mit George Clooney ausgeschlagen. In den Entlassungspapieren wird stehen, dass man prima Arbeit geleistet hat: „…. so dass wir Frau K… wieder in ihre ambulante Betreuung nach Hause entlassen können.“ Außerdem lesen wir dort, dass meine Mutter ‚starke Ängste’ geäußert hätte, „in den wachen Phasen, in denen man mit ihr kommunizieren konnte“. Erstaunlich. Obwohl mein Vater, meine Schwester und ich doch von morgens bis abends dort gewesen sind, war mit meiner Mutter nicht zu kommunizieren. „Im Laufe des Aufenthaltes besserten sich die Ängste“, steht dort weiter.  Aber nicht, wie man zu dieser Feststellung kam. Gesprochen hatte meine Mutter da schon lange nicht mehr. Und wenn sie es getan hätte, hätte sie vermutlich gefragt, wann ihr eigentlich mal wieder jemand die Haare wäscht. Auch das hatte man in den zehn Tagen in diesem selbsterklärten Epizentrum der Zuwendung nicht für notwendig befunden. Eine Woche später stirbt meine Mutter. Seitdem haben wir dieses Problem, dass man uns behandelt, als hätten wir behauptet, dass der Osterhase einen Swingerclub betreibt und Schneewittchen im Drogenhandel tätig ist. Und es ist nicht allein unser Problem. Es ist auch und vor allem eines für die Palliativmedizin und ihre Patienten. Es hat sicher auch damit zu tun, dass wir so froh sind, dass man uns ein ‚gutes’ Sterben verspricht, dass wir uns lieber diese Illusion bewahren wollen, als genauer hinzuschauen, nachzufragen, zu insistieren und zu prüfen, ob diese Hoffnung auch erfüllt wird. Zumal es keine Hoffnung sein darf. Es geht ja nicht um Gefälligkeiten, es gibt schließlich einen Anspruch auf eine bestimmte Zuwendung, Versorgung, den die Palliativmedizin selbst für sich definiert und für die sie letztlich auch Geld bekommt. Das gilt auch für die Station, auf der meine Mutter lag und die unter ‚Unser Angebot’ 19 Aktivposten auflistet, von denen höchstens zwei auch wirklich angewandt wurden (obwohl ich mir bei ‚Symptomkontrolle’ gar nicht mal sicher bin, dafür war einmal zehn Minuten eine ‚Musiktherapeutin’ am Bett meiner bewusstlosen Mutter).  Auf der anderen Seite tut es Menschen erfahrungsgemäß gar nicht gut, wenn man sie und ihre gesunde Selbsteinschätzung unter Vorschusslorbeeren  begräbt, wenn alle Welt schon ergriffen ist, sobald jemand sagt ‚Ich bin Palliativmediziner’. Da muss man ja überschnappen. (Was ein wenig erklärt, weshalb eine der Ärztinnen, mit denen wir es zu tun hatten, in einem Interview tatsächlich zu Protokoll gibt ‚Gott hat uns ausgesucht!’) Hybris und ‚ethische Überhöhung’ seien eine ernsthafte Gefahr, gerade in der professionellen Hospiz- und Palliativarbeit, warnt auch der Münchner Neurologe und Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin Professor Gian Domenico Borasio. Ja, die Arbeit in der Palliativmedizin ist unendlich wertvoll. Wenn man sie richtig macht. Und ich habe später Palliativstationen kennen gelernt, wo das genau passiert. Das MUSS auch so sein. Schließlich stirbt man ja nur einmal und leider sagt niemand: ‚Ok, das ist jetzt echt mies gelaufen. Machen wir es eben noch mal.’ Es kann aber auch anders laufen. Man kann diese Arbeit aber auch sehr falsch machen und gerade hier auf Leute treffen, die sich ihr vollimprägniertes Größenselbst nicht von ‚undankbaren’ Patienten und ihren nervigen Angehörigen ankratzen lassen wollen. Das musste mal gesagt werden. Auch wenn Sie es mir lieber nicht glauben.  Ich kann das verstehen. Ich war ja auch nicht anders.