Auf meiner Stirn ist ja ein Motto eingraviert – „Ziviler Ungehorsam“. Das hat mir schon viel Ärger eingebracht, aber auch viele Chancen eröffnet. Prinzipiell ist es gut, wenn man in der Palliativmedizin Fünfe gerade sein lassen kann. Das bedeutet im speziellen Fall zum Beispiel, dass man einen schwerstkranken und instabilen Menschen während eines stationären Aufenthaltes auf ein Rockkonzert fahren lässt. Dankenswerterweise gibt es immer Menschen, die solche Dinge mittragen. Marcel war einer der Pflegekräfte in der Weiterbildung Palliative Care und was dies für ihn und den Patienten bedeutet hat, wird er in diesem Beitrag schildern.

Lieber Marcel, ich danke dir ganz besonders dafür, du weißt warum!!

Master of Desaster

 

Gernot F.

Hallo,

ich bin ausgebildeter Gesundheits- und Krankenpfleger und arbeite in einer onkologischen Abteilung.

Letztes Jahr absolvierte ich eine Fachweiterbildung für Palliative Care und war im Zuge dessen auch auf der von Frau Dr. Gog geleiteten Palliativstation eingesetzt.

Ich hätte vorher nicht erahnen können, welch eindrucksvolle Begegnung mir bevorstand, Gernot F. ein Patient mit einer Tumorerkrankung lag zu diesem Zeitpunkt auf eben dieser Palliativstation. „Gerry“, wie Gernot immer genannt wurde, hatte bis hierhin eine bewegte Lebensgeschichte und sollte mich in ein weiteres, kleines Kapitel mitnehmen.

Leidenschaftliche Fotografien von seiner Lieblingsrockband waren Hobby und Beruf zugleich für ihn, auch wenn es sein Gesundheitszustand nicht immer zuließ. Genau diese Band spielte in der Stadt als Gerry auf der Palliativstation behandelt wurde. Das stellte für ihn jedoch kein Problem dar, denn es war für ihn sonnenklar, dass dieses Konzert nur mit ihm stattfinden würde. Da eine Beobachtung zu diesem Zeitpunkt unabdingbar war und sich Gerry nicht von seiner Idee abbringen lassen wollte, wurde ich gefragt ob ich Gerry begleiten würde. Auch wenn ich nicht genau wusste was mich erwartet, musste ich nicht lange überlegen – Ja!
Als es dann zwei Tage später soweit war holte ich Gerry von Station ab. Er wirkte nervös und führte über den ganzen Tag viele Telefonate mit langjährigen Freunden die er seit einiger Zeit heute wiedertreffen würde. Wir stiegen in ein Taxi, es war noch früh am Abend. Als wir ankamen stand die Band und eine Handvoll ihrer treusten Anhänger (Gerrys Freunde) schon vor diesem unscheinbaren Club, es folgten viele herzliche Umarmungen. Ich wurde allen vorgestellt und erhielt sofort die Bitte des Managers der Band; „Keep him going!“ – mit einem Augenzwinkern. Als sich die Band auf den Vortritt vorbereitete führte mich Gerry, in sichtbarem Erschöpfungszustand, in dem Club herum und zeigte mir alles was es zu sehen gab. Backstage angekommen, folgte die wohl intensivste Begegnung für Gerry – Christina eine Freundin und ebenso wie Gerry leidenschaftliche Fotografin stand vor ihm und konnte ihren Augen nicht trauen. Unter fließenden Tränen der Freude über das Wiedersehen hielten sie sich lange in den Armen. Kurz danach ging das Konzert los, der Club war gut besucht. Christina und Gerry zeigten sich voll in ihrem Element. Es war faszinierend zu sehen wie Gerry seinen schlechten Zustand für diese Zeit ausblenden konnte und voller Freude seinem Beruf und Hobby nachging. Nach dem Konzert tauschte sich Gerry mit der Band aus und drückte nochmals seine Begeisterung über ihre Fähigkeiten aus. Danach folgte eine innige Verabschiedung und wir stiegen wieder ins Taxi, zurück Richtung Krankenhaus. Ohne, dass Gerry ein Wort sagte wusste ich, dass er sich im Klaren darüber war einige dieser Leute heute zum letzten Mal gesehen zu haben.
Der nächste Tag war mein Letzter auf der Palliativstation, da mein Einsatz beendet war. Gerry sollte in der folgenden Woche entlassen werden. Wir unterhielten uns beide lange über den Vorabend und ließen dieses fantastische Erlebnis Revue passieren.
Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen. Ungefähr einen Monat später wurde Gerry wieder in die Klinik eingeliefert und erlag seiner Erkrankung, bevor mich die Nachricht seines Zustands erreichen konnte.

Ich bin heute noch betrübt über diese Umstände, aber ich weiß, dass uns ein gemeinsames Erlebnis, das gleichzeitig ein Highlight meiner beruflichen Laufbahn ist, verbindet und dafür bin ich sehr dankbar.