Mein heutiger Eintrag soll dem Thema Leid oder Schmerz gewidmet sein. In der Medizin ist der Zugang zu Leid oder Schmerzen oft ein sehr körperorientierter. Es geht um die Ursache der Schmerzen, die Qualität der Schmerzen oder die medikamentöse Behandlung der Schmerzen. Dies sind alles wichtige Aspekte, aber eigentlich nicht ausreichend, um ein vollständiges Bild der Schmerzen oder des persönlichen Leids eines Menschen zu erhalten.

Cicely Saunders hat in den 60iger Jahren das Konzept des völligen Schmerzes oder Leids definiert, das sogenannte Total Pain Konzept. Cicely Saunders war Krankenschwester, Sozialarbeiterin und  Ärztin. Sie begründete 1967 das erste Hospiz in London, das St. Christopher’s Hospice. Viele der Konzepte sind heute noch gültig und Grundpfeiler der Arbeit und des Selbstverständnisses in der Palliativmedizin und Hospizarbeit.

Inhaltlich beschreibt dieses Konzept die vier verschiedenen Ebenen oder Qualitäten von Leid (Schmerz): körperlich, seelisch, sozial und spirituell.

Klingt zugegeben etwas abgefahren, deshalb hier ein paar Erklärungsversuche dazu:

1. Körperliche Dimension

Ist, glaube ich, die am einfachsten zu verstehende Qualität. Jeder hatte schon mal einen körperlichen Schmerz oder ein körperliches Leid (z.B. eine körperliche Einschränkung nach einem Unfall). Damit kennt man sich als Patient am besten aus und das gleiche gilt auch für medizinisches Fachpersonal wie Ärzte, etc. Hier befinden sich alle in ihrer persönlichen Komfortzone und dem entsprechend wird natürlich darauf auch gerne der Schwerpunkt gelegt.

2. Seelische Dimension

Hier wird es schon schwieriger, obwohl heute der Psyche durchaus mehr Stellenwert zuerkannt wird. Man kennt Psychotherapeuten oder Psychiater und hat, zumindest ansatzweise, das Wissen, dass die Psyche oder Seele durchaus auch körperliche Beschwerden auslösen kann.

Wenn ich Studenten oder Krankenschwestern unterrichte, nehme ich als Beispiel gerne den Liebeskummer. Den hat ja irgendwie jeder schon mal erlebt. Hoffentlich! 🙂 Jeder weiß wie das Gefühl dazu ist, einfach ätzend. Alles ist Nichts, der ganze Körper tut weh, inklusive der Haare und die Motivation seinen Tag zu beginnen ist sehr abgeschwächt. Von Lebensfreude keine Rede.

Jeder hat so seine Strategien entwickelt, um damit klarzukommen. Frauen tendieren dazu stundenlang mit der Freundin Schuhe kaufen zu gehen und Männer betrinken sich mit dem besten Kumpel in der nächstbesten Kneipe, bis das Licht ausgeht (sowohl in der Kneipe wie auch im Kopf). Das Gute am Liebeskummer ist, dass er irgendwann endet. Irgendwann wacht man auf und denkt: „Bist du bescheuert, andere Mütter haben auch schöne Söhne oder Töchter!“

Das gilt leider für den psychischen oder seelischen Schmerz unserer Patienten nicht! Im Gegenteil! Mit dem Voranschreiten der Krankheit verstärkt er sich sogar. Da ist vielleicht der zunehmende Schmerz, die zunehmenden körperlichen Einschränkungen aber eben auch die Gewissheit, dass man seine Kinder, Ehepartner oder pflegebedürftigen Eltern unversorgt zurücklassen muss. Das man sterben muss und sich davor fürchtet. Vielleicht besonders davor, wie man sterben muss…

3. Soziale Dimension

Zu den Verlusten, die man so im Verlauf einer schweren Erkrankung hinnehmen muss, gehört auch der Verlust seiner sozialen Rolle. Also eigentlich all das, was einen bisher, gefühlt, ausgemacht hat und für manche Menschen unglaublich wichtig war. Dazu zählen der Verlust der Berufstätigkeit, der Verlust der Rolle in der Familie (Mutter oder Vater sein) oder zum Beispiele die Unfähigkeit sein soziales Leben mit Freunden aufrecht zu erhalten.

Wieder ein Beispiel dazu aus dem Unterricht. Wir leben ja hier in Frankfurt –  in der Bankenstadt schlechthin. Stellen Sie sich einfach einen der Bankmanager oben in seinem hohen Bankenturm vor. Sicher eine sehr machtgewohnte Position. Großes Gehalt, dickes Auto, beste Hotels, schickes Häuschen und viele Mitarbeiter, die man den ganzen Tag beschäftigen kann. Nur mit der Familie klappt es oft nicht so gut, wegen der langen Arbeitszeit und der vielen Reisen. Sind Kinder vorhanden, werden diese oft von einem Au-pair Mädchen versorgt und leben ihr eigenes Leben, ohne das der Vater viel mitbekommt. Wenn so ein Mensch zu uns auf die Palliativstation kommt, kann es erst mal ein bisschen schwierig werden. Schließlich ist ja alles, was diesem Menschen bisher wichtig war, nicht mehr vorhanden. Bei der Aufnahme in ein Krankenhaus gibt man ja quasi seine Selbstständigkeit beim Pförtner ab. Man kann natürlich versuchen, ein bisschen das Pflegepersonal herum zu kommandieren. Leider keine wirklich gute Idee und wird deshalb auch nicht lange funktionieren. Was dieser Mensch letztendlich erlebt, ist einen kompletten Rollenverlust. Alles was ihm wichtig war, ist vorbei. Er wird nie wieder in seinem Beruf arbeiten können und alle angehäuften Güter bringen nur wenig Befriedigung in so einer palliativen Erkrankungssituation. Was man eigentlich jetzt braucht, ist menschliche Zuwendung und zwar am besten von der Familie oder Freunden. Falls denn die Familie noch dafür zur Verfügung steht und man überhaupt noch eine Bindung dazu hat.

Jetzt stellen sie sich mal vor, es geht nicht um einen Banker, sondern um einen einfachen Arbeiter mit Kindern, der bisher den Lebensunterhalt der Familie gewährleistet hat. Hier geht es nicht mehr darum, ob die Kinder eventuell die Privatschule verlassen müssen, sondern darum, ob am Monatsende genügend Geld übrig ist, um Essen zu kaufen. Daraus resultieren natürlich Versagensgefühle in der Rolle als Ernährer und Versorger – schweres soziales Leid also.

4. Spirituelle Dimension

Ist immer für mich am schwierigsten zu erklären und als ich es das erste Mal gehört habe, waren in meinem Kopf auch eher viele Fragezeichen. Spiritueller What? Nach einer Weile in der Palliativmedizin hatte ich aber sehr wohl ein Bild dazu.

In Bezug auf religiöse Menschen kann es zum Beispiel das Hadern mit Gott sein. „Jetzt war ich immer im Gottesdienst, habe der Nachbarin die Einkäufe hochgetragen, war engagiert in der Gemeinde und jetzt werde ich so bestraft, indem ich mit einem zerfallendem Tumor auf dieser Station liegen muss. Womit habe ich das verdient?“ Kann man schon verstehen, dass das leidvolle Gedanken sein können. Bei solchen Problemen bin ich immer froh, dass ich die Seelsorge dazu holen kann. 🙂

Oft ist es aber nicht die Religion, sondern zum Beispiel die Sinnfindung. Wenn man einen 17-jährigen in der Erkrankung und beim Sterben begleitet, geht es selten um die Religion. Da geht es um existentielle Fragen, wie zum Beispiel: „Warum habe ich keine Zukunft? Warum habe ich mich noch nie verliebt? Warum kann ich nicht, wie meine Freunde, die Abende in der Diskothek verbringen? Warum kann ich meine Ausbildung nicht abschließen?“

Ja, was macht man jetzt damit? Wie reagiert man auf des Erkennen dieser leidvollen Zustände. Was machen die Palliativmediziner in solchen Fällen? In meinem nächsten Blogeintrag werde ich versuchen, es an einem Patientenbeispiel zu erläutern.

Master of Desaster

 

Hoffnung ist eben nicht Optimismus! Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.

Vaclav Havel