Manchmal überrascht das Leben mit weniger schönen Nachrichten. Und weniger schön steht hier eigentlich für grausame Nachrichten.
Nachrichten, die man niemandem wünscht. Dazu zählt sicherlich die Diagnose Krebs. Und obwohl man nicht selbst betroffen ist, sondern als Familienangehöriger gewissermaßen Beistand leistet, fühlt es sich an, als ob eine Welt zusammenbricht und das Universum sich gegen einen verschworen hat. Im Moment der Diagnoseverkündigung erwartet man als Angehöriger nichts sehnlichster als eine positive Antwort auf die Frage: Wie und wann kann eine Heilung erzielt werden? Doch es gibt Momente wie diesen, die den schlimmsten Albtraum übertreffen, nämlich die nüchterne Aussage: „Es gibt keine Chance auf Heilung. Es gibt nur noch die Möglichkeit, die letzten Monate, Tage und Wochen für den Patienten so angenehmn wie möglich zu gestalten.“ Natürlich kann einem in diesem Moment auch niemand sagen, wie lange sich dieses Ende hinziehen wird und welche Höhen und Tiefen der Patient oder die Angehörigen in dieser Zeit durchlaufen. Man erhält sicherlich viele Informationen und auch verständnisvolle Gespräche, aber tragen muss man eine tonnenschwere Last selbst.
Die ständige Ungewissheit des „Haben wir wirklich alles versucht“ wird begleitet von der schmerzlichen Frage des „Womit hat sie das verdient?“, oder: „Womit haben wir das als Familie verdient, dass wir sie so schnell gehen lassen müssen? Und haben wir all das zusammen erlebt, was wir tun wollten?“ Die große Freude auf die gemeinsamen Tage, die vor einem liegen. Zerplatzt wie eine Seifenblase in der Hand.
Für uns große, westliche Zeitoptimisten, in einer Gesellschaft lebend, in der häufig Dinge auf morgen, den Urlaub oder die Rente verschoben werden, ist der Verlust der Planbarkeit unerwünscht. Wir schätzen ihn nicht. Wir mögen es, Dinge planen und steuern zu können. Nun aber sind wir mit einem Mal gefordert im Jetzt zu bleiben: Jede noch gemeinsame Stunde, jeder Tag zählt. Der Tod ist nicht planbar. Er hat keinen Namen. Manchmal kündigt er sich an und manchmal nicht. Das bringt uns an unsere Grenzen, denn wir sind nicht darauf vorbereitet und nicht darauf eingestellt. Er scheint eine Art Parallewelt zu lieben, in der wir uns üblicherweise nicht bewegen. Wir blenden sie aus. Doch dann gibt es diese Momente, die einen zwingen, in diese Welt einzutreten. Sich ihr zu stellen. Sie anzuschauen. Krebs. Unheilbar.
Das muss man erst einmal verdauen, verarbeiten, setzen lassen.
Wir haben in den wenigen uns bleibenden Wochen vor dem Tod unserer Mutter und Großmutter, Schwiegermutter und Ehefrau viel Auf und Ab erlebt. Wir bewegten uns gemeinsam mit den Ärzten zwischen palliativer Chemotherapie, Sauerstoffmangel, Thrombosen, unerträglichen Schmerzen, Ängsten und vielem anderen mehr. Man kann kaum beschreiben, was in dieser Zeit alles über einen hereinbricht. Für mich fühlte es sich an wie ein Marathon und erst im Nachhinein begriff ich langsam, welche traumatische Erfahrung es emotional ist bzw. war. Es ist wirklich erstaunlich, was wir alles aushalten können.
Und bis wir zum ersten Mal Kontakt mit der Onkologie hatten und dort der Begriff Palliativmedizin fiel, hätten wir die Palliativmedizin mit einem Hospiz gleich gesetzt. Aber schnell durften wir begreifen, dass Palliativmedizin ein ganz anderes Konzept in der Betreuung unheilbar kranker Patienten verfolgt. Und deshalb freue ich mich, unsere Erfahrung mit der Palliativstation am UCT kurz weiterzugeben:
Mit der Einweisung meiner Mutter auf die Palliativstation änderte sich für die gesamte Familie schlagartig alles. Dort kümmerte man sich auf unbeschreiblich liebevolle Weise um sie, die innerhalb weniger Wochen äußerlich um 20 Jahre gealtert war. Meine sonst so agile Mutter wurde vom Krebs dahingerafft, dass sie schlicht und ergreifend nicht wiederzuerkennen war.
Doch mit der sorgsamen Pflege auf der Palliativstation (Massagen, Körperpflege, Musik, Ansprache durch den Pfarrer, die Ärzte und das Pflegepersonal) blühte sie in der letzten Woche vor ihrem Tod nochmals auf. Sie wurde liebevoll umsorgt, erhielt alle notwendigen Medikamente und von jetzt auf gleich konnten wir als Angehörige unser Wettrennen um Arztgespräche, häusliche Versorgung, Sorge um den täglichen Zustand beenden.
Wir sahen, dass sie sich beim Team von Frau Dr. Gog in besten Händen befand und das schenkte uns das wohl Wichtigeste: Zeit. Die Zeit ab nun mit ihr verbringen zu dürfen. Wir verbrachten sie nicht mehr für sie, sondern mit ihr. Wir konnten mit ihr die für uns wichtigen Dinge besprechen (obgleich man zugeben muss, dass man nach dem Tod erst bemerkt, was man nicht besprochen hat), weil man den Wald vor läuter Bäumen in solchen Momenten nicht mehr sieht. Aber wir konnten viel besprechen und hatten Zeit für sie. Wir durften erleben, dass sie in Respekt, Würde und Liebe von uns gehen durfte. Bis heute sind wir unendlich dankbar, dass wir die Palliativstation an der Uniklinik Frankfurt in dieser schweren Zeit in Anspruch nehmen konnten. Vermutlich wären wir zuhause unter der psychischen und körperlichen Last einer solchen Erkrankung zerbrochen, denn als Privathaushalt ist man auf eine solche Situation schlicht und ergreifend weder vorbereitet noch eingerichtet.
Hinzukommt ein ganz wesentlicher Faktor: Als Angehöriger ist man in dieser Zeit selbst enormen Belastungen ausgesetzt und braucht Zeit und Ruhe für sich selbst. Das bemerkt man häufig (erst) nicht oder zu spät. Man funktioniert zunächst und eine zeitlang erstaunlicherweise wie ein Uhrwerk, bis man langsam merkt, dass die Kräfte schwinden. Aber Frau Dr. Gog und ihr Team kümmerten sich nicht nur um die Patientin, sonderen waren Ansprechpartner für uns als Familie. Sie bereiteten uns frühzeitig auf den Sterbeprozess vor, als die Blutwerte erste Hinweise gaben. Sie erklärten uns das weitere Vorgehen, hörten sich unsere Ängste, Sorgen und Nöte an, organisierten die Krankensalbung, nahmen sich Zeit für persönliche Momente. Am Tag vor dem Ableben meiner Mutter sagte Frau Dr. Gog zu mir: „Sie gehen jetzt nach Hause und ruhen sich aus. Sie können nichts mehr für Ihre Mutter tun. Sie haben getan, was zu tun war. Nun übernehmen wir vollständig. Sollte ich vor 22 Uhr merken, dass es zu Ende geht, rufe ich Sie an, damit Sie kommen können. Ansonsten versuchen Sie zu schlafen und ich melde mich morgen früh um 7 Uhr bei Ihnen. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Sie heute Nacht hierher rasen und sich selbst noch gefährden.“ Und so kam es, dass wir in vollem Bewusstsein, aber voller Vertrauen die Klinik verließen. Die klaren und klugen Worte gaben uns Vertrauen. Frau Dr. Gog wusste genau, was sie tat und was in diesem Moment richtig für uns war. Am nächsten Morgen um 06.30 Uhr stand ich auf. Niemand hatte angerufen. Doch um Punkt 7 Uhr klingelte das Telefon. Ich kannte die Nachricht, wußte, dass sie uns verlassen hatte.
Bis heute bin ich dem Team der Palliativstation in unendlicher Dankbarkeit verbunden, dass Sie meine Mutter und uns in dieser Zeit ein großes Stück getragen haben. Es ist eine wunderbare Arbeit am Menschen, die dort Tag und Nacht geleistet wird.
Es hat ziemlich genau ein Jahr gedauert, bis ich es geschafft habe, das Gebäude wieder zu betreten. Zu tief waren der Schmerz, die Trauer und die schrecklichen Erinnerungen an den Verlust. Doch wenn ich heute dort bin, rund zwei Jahre danach, kommt in mir ein Gefühl tiefer Dankbarkeit auf, dass es diese Station gibt, für meine Mutter und alle Patienten, die jetzt dort sein dürfen.
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