Voyage

Hallo, wie schon bei meinem letzten Beitrag zu diesem Blog, möchte ich auch dieses Mal von einem gemeinsamen Erlebnis mit einem Patienten, Helmut B., berichten.

Es war Anfang November 2016 als Herr B. aufgrund seiner Tumorerkrankung auf der Palliativstation behandelt wurde. Sein (letzter) Geburtstag stand bevor und er wünschte sich noch einmal eine Reise in seine Lieblingsstadt – Paris! Trotz der Bitte sich dies angesichts seines reduzierten Zustands noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, war sein Wille ungebrochen. Diesem Wunsch wollte Frau Dr. Gog obgleich organisatorischer Schwierigkeiten entsprechen, allerdings war Herr B. für eine Entlassung und Tour auf eigene Faust nicht stark genug. Eine Begleitperson musste her. Der ehrenamtliche Betreuer war für diesen Tag leider verhindert. Ich war zu diesem Zeitpunkt im Einsatz auf der benachbarten Station, die sich die Räumlichkeiten mit der Palliativeinheit teilt. Als Frau Dr. Gog mich sah, kam sie kurzer Hand zu mir und fragte mich, ob ich mit Helmut B. an seinem Geburtstag mit dem Zug nach Paris fahren wolle. Herr B. war mir bereits aus einer anderen Abteilung bekannt. Voller Euphorie Teil eines solchen Erlebnisses zu sein, fiel meine Antwort positiv aus. Erfahrungen über einen Ausflug mit einem Patienten hatte ich bereits im Vorjahr gesammelt (siehe Beitrag „Gernot F.“), aber dieser Ausflug war eine andere Größenordnung. Es war eine große Ehre für mich diese Reise begleiten zu dürfen, allerdings standen nun allen Beteiligen einige Herausforderungen bevor. Dank des Fördervereins Brücke e.V. und einer privaten Spende brauchten wir um die Finanzierung des Zugtickets und Spesengeld keine Gedanken machen. Bei dem Spender handelte es sich um Herrn Bodo Bimboese – ein Top-Manager einer Firma, der zu dieser Zeit die Palliativeinheit auf eigenen Wunsch während eines 1-tägigen Praktikums kennenlernte. Jedoch waren da noch die Kompensation meines Dienstausfalls auf Station und die rechtlichen Bedingungen zu bewerkstelligen. Auch dies konnte trotz reichlicher Tücken gemeistert werden. Nun konnte es losgehen, der Tag der Reise war gekommen.

Am Morgen des 11. Novembers fuhr ich um kurz nach 5:00 Uhr in die Klinik um Herrn B. abzuholen. Als ich auf Station ankam war er schon einige Zeit wach, er wirkte nervös und aufgewühlt. Ich gratulierte ihm herzlich zum Geburtstag und dank exzellenter Vorbereitung des Nachtdienstes konnten wir uns zügig Richtung Bahnhof aufmachen. Dort angekommen stellte ich schon eine Fehlentscheidung meinerseits fest: sich bei kaltem, regnerischen Wetter für ein sportlich-luftiges Schuhmodell zu entscheiden erwies sich als ausdrücklich falsch, nasse und kalte Füße waren das Ergebnis. Es sollte die einzige Fehlentscheidung an diesem Tag bleiben. Pünktlich um 6:00 Uhr rollte der ICE Richtung Paris. Viele Gedanken über den bevorstehenden Tagesverlauf schossen mir durch den Kopf.: Würde Herr B. den Reisestrapazen standhalten? Kann Herr B. diesen Tag genießen? Wie würden die Menschen reagieren, wenn die Symptomlast von Herrn B. zunimmt? Ich schaute besorgt auf Herr B. und als ich sah wie entspannt er im Sitz lag und döste, verflogen diese Gedanken. Nach und nach füllte sich unser Abteil. Um 8:00 Uhr stand die morgendliche Gabe der Medikation an, als wir diese über den Schlauch der PEG-Sonde verabreichten, erhielten wir die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Wagon. Die restliche Fahrzeit beschäftigten wir uns mit der Tages- und Routenplanung, da Herr B. einige Jahre in Paris gearbeitet hatte, waren seine Vorstellungen für diesen Tag sehr zielgerichtet. Um 10:00 Uhr erreichten wir Paris, umgehend besorgten wir uns ein Ticket für die U-Bahn und fuhren zu unserem ersten Ziel: Sacré-Coeur. Nach einem kleinen Fußmarsch von der U-Bahn-Station, begrüßte uns strahlender Sonnenschein an der Spitze des Sacré-Coeurs. Wir schossen erste Fotos und begaben uns in dieses prachtvolle und spirituelle Gebäude. Trotz zahlreicher Besucher war es sehr still, viele beteten. An einem Gedenkaltar zündete Herr B. zwei Kerzen an, er schien sehr nachdenklich dabei zu sein. Wieder draußen begaben wir uns zu unserem nächsten Ziel: das Künstlerviertel von Montmartre. Ein 5-Minütiger Spaziergang durch die Gassen dieser Stadt, vorbei an Souvenirläden und Restaurants, schon waren wir da. Bei einer Tasse Kaffee schauten wir uns nach einem geeigneten Künstler für ein Porträt von Herrn B. um. Kritisch beäugte er die jeweiligen Arbeiten. Nachdem wir ausgetrunken hatten und der Preis verhandelt war, machte sich die auserwählte Künstlerin ans Werk. Das Ergebnis war verblüffend, es war ein wirklich schönes Porträt, gezeichnet nach einem Passfoto von Herrn B. aus besseren Tagen. Mit dieser Errungenschaft im Gepäck schlenderten wir zurück zum Sacré-Coeur.  Hier wollte Herr B. noch einige Miniatur-Eifeltürme von einem Straßenhändler erstehen. Zu einem günstigen Preis versteht sich. Da Herr B. aufgrund einer Trachealkanüle nur bedingt kommunikationsfähig war wollte ich mich aus Dolmetscher einbringen. Das wiederum kam für ihn nicht in Frage, er gestikulierte wild in meine Richtung und drückte mich zur Seite. Ich nahm als stiller Beobachter an dieser harten aber auch unterhaltsamen Verhandlung teil. Ein Preisnachlass von fast 50% war der Erfolg – Chapeau! „Für Station!“ sagte Herr B. zu mir, als der Verkäufer die Ware für uns einpackte.

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Nun machten wir uns auf den Weg zur U-Bahn-Station um unser drittes und letztes Ziel zu erreichen: das Schokoladenmuseum. Auch auf diesem Weg zeigte sich Herr B., wie schon den ganzen Tag über, ausgesprochen tapfer und ausdauernd für einen Menschen mit einer derartig hohen Krankheitsschwere. Dennoch sollte ich nun erfahren was soziale Isolation aufgrund einer Körperbildsstörung bedeuten kann. Eine ältere Frau blieb mit offenem Mund, weit aufgerissenen Augen und ausgestrecktem Zeigefinger direkt vor Herr B. stehen. Schon den ganzen Tag über erntete er schiefe Blicke, die von bemitleidenswert bis abstoßend alles zu bieten hatten. Allerdings besaß niemand die Dreistigkeit eine Ausgrenzung so offensichtlich zu vollziehen. Es war schmerzhaft für mich diese Reaktion zu sehen, ich war wütend und betroffen zugleich. Ich stellte mich ihr gegenüber und spiegelte ihre Geste, sie erschrak und begriff – während er, der Stärkere von uns beiden, mich am Arm packte und weiterging. Auf der nachfolgenden 20-Minütigen U-Bahn-Fahrt konnte ich meine Konzentration wieder auf das wesentliche fokussieren. Im Schokoladenmuseum angekommen sahen wir dann auch endlich den Eifelturm, eine über 2 Meter hohe Köstlichkeit aus Schokolade, die womöglich jede Figur zu zerstören vermochte. Auch den Nachbau des L’arc de Triomphe aus Schokolade und die Arbeit eines Chocolatiers während einer eigens inszenierten Show durften wir bewundern. Zum Abschluss schlugen wir nochmal kräftig im nachfolgenden Schokoladenshop zu. Als wir dann am späten Nachmittag das Museum verließen überprüfte ich per Handy noch einmal die Abfahrt unseres Zuges. Schockiert stellte ich fest, dass unser Rückzug ausfiel. Ich war in heller Aufregung während Herr B. seinem neu gewonnen Hobby, dem Verhandeln ins Souvenirshops nachging und nicht aus der Ruhe zu bringen war. Nach einer kurzen Erläuterung der Dringlichkeit eines Alternativplans machten wir uns früher als geplant auf den Weg zum Bahnhof. Dort angekommen konnten wir uns glücklicherweise einen zeitnahen Ersatzzug organisieren. Als wir einen geeigneten Platz im Zug gefunden hatten, offenbarte Herr B. sein Mundpflege-Equipment auf dem eher spärlichen Tisch vor uns und führte (zur Verwunderung der Mitfahrer) mit aller Routine eine penible Mundpflege samt Spiegel, Taschenlampe und Wattestäbchen durch. Die Rückfahrt verging trotz zweimaligem Umsteigen und rund einstündiger Verspätung recht schnell. Um 22:30 Uhr waren wir zurück auf Station, wo uns der Nachtdienst herzlich empfing. Ich verabschiedete mich von Herrn B. und bedankte mich noch einmal für den Tag, bevor er völlig entkräftet ins Bett fiel. Ich gab die wichtigsten Informationen von Herrn B., über Medikation und Tagesverlauf an die Kollegen weiter und machte mich auf den Heimweg. Ein anstrengender und ereignisreicher Tag endete. In den darauffolgenden Tagen fanden all jene Mitbringsel von Herrn B. auf Station reißenden Absatz. Wir unterhielten uns noch einige Male und tauschten Fotos aus, ehe mein Einsatz beendet war.

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Zwei Wochen später verstarb Herr B. auf der Palliativstation. Auch wenn mir seine ungünstige Prognose bekannt war, traf mich diese Nachricht. Dennoch bin mir sicher, dass durch unsere gemeinsame Reise sein letzter großer Wunsch nicht unerfüllt blieb.

Den letzten Wunsch eines Menschen zu erfüllen ist von unschätzbarem Wert, ich möchte an dieser Stelle noch einmal klarmachen, dass es für eine Wunscherfüllung dieser Art sehr wohl eine herausragende Teamleistung von allen Mitarbeitern auf der Palliativstation benötigt hat um etwas das unmöglich schien, zu ermöglichen. Danke!

 

Marcel Müller