„Frau Doktor, mein Mann hat mich gerade so ins Gesicht geschlagen, dass meine Brille durchs Zimmer geflogen ist. Was soll ich jetzt machen, er ist doch so krank und stirbt bald?“

Eigentlich wollte ich nur schnell ein Fax versenden und lande mitten in einem Krisengebiet…

Nachdem ich der Angehörigen eine Weile zugehört habe, stellt sich heraus, dass Gewalt für diese Frau offenbar schon vorher zum Ehe-Alltag gehört hat. Natürlich bin ich direkt solidarisch mit dieser Frau. Mit allen Gedanken, die man eben hat, wenn man hört, dass eine Frau von ihrem Mann geschlagen wurde. Kurz: Ich bin jetzt auch alarmiert und auf dem Kriegspfad. Ich will der Sache nachgehen.

Die Pflegekräfte berichten allerdings, dass es im bisher dreiwöchigen Aufenthalt weder verbal noch in irgendeiner anderen Form Probleme mit dem Patienten gab. Er sei immer sehr höflich gewesen und habe sich für jegliche Zuwendung bedankt. Das gleich gilt auch für den ärztlichen Kontakt und auch ich hatte bisher keinen Grund ein Aggressions-Problem zu vermuten.

Herr O., den ich in Anwesenheit der Pflegekräfte frage, gibt den Streit direkt zu, leugnet aber mehrfach und vehement die körperliche Aggression. Der Patient berichtet stattdessen vom jahrelangen Alkoholabusus seiner Ehefrau. Er erzählt, seine Frau sei ein „schrecklicher Dickkopf“. Anlass für den Streit wäre gewesen, dass sie ihm wiederholt das falsche Essen mitgebracht hätte.

Natürlich war niemand von uns anwesend und keiner kann sagen, wer von beiden die Wahrheit sagt und wer nicht. Das bespreche ich auch so mit dem Patienten und sage ihm auch, dass wir uns nicht einmischen in diesen Konflikt, aber dass hier im Krankenhaus ein anderes Setting besteht, jegliche körperliche Gewalt nicht toleriert wird. Der Patient entschuldigt sich, bedankt sich für das Verständnis. Er betont zum Schluss aber nochmal, dass er seine Frau nicht geschlagen habe.

Wir verlassen das Zimmer und seine Ehefrau betritt wieder den Raum. Die Tür bleibt offen…

Es dauert keine 2 Sekunden und der Streit beginnt erneut. Wir hören ihn bis auf den Flur und Herr O. schreit seine Frau an: „Warum hast du das der Ärztin erzählt? Schließlich hast du mich zuerst geschlagen und ich habe dich einfach nur zurückgeschlagen.“

Tja, letztendlich haben uns beide angelogen!

Die Ehefrau verlässt wutschnaubend das Zimmer, der Patient läuft hinterher und der Streit setzt sich auf dem Flur fort. Wir intervenieren und trennen das Paar. Herr O. läuft laut schimpfend in sein Zimmer und die Ehefrau verlässt ebenfalls laut schimpfend die Station. 

Nicht ganz so, wie wir uns ein würdevolles Lebensende vorstellen. Und natürlich stellt die Situation einige Fragen:

Macht es Sinn, sich in diese uralten Beziehungsstrukturen einzumischen? Und sollen wir es – typisch palliativmedizinischer Paternalismus –  wirklich immer besser wissen, was für einen Menschen am Lebensende das Beste ist?

Ich entscheide mich für einen Kompromiss: Die Frequenz der Besuche wird reduziert, die Zimmertür bleibt hierbei offen und wir bieten unseren Aufenthaltsraum als geschützten Ort an.

Beiden Parteien ist das Ganze schrecklich unangenehm – ist halt doch ein Unterschied, wenn es plötzlich alle wissen. Die weiteren Besuche verlaufen friedlich und beide versichern, dass sie sich doch eigentlich sehr lieben, ihnen bewusst ist, dass ihre gemeinsame Zeit sehr begrenzt ist. Sie sind dankbar dafür, dass wir sie nicht verurteilen und unsere Unterstützung durch Neutralität signalisieren.

Gestritten haben Sie übrigens doch wieder… als sie dachten, Sie seien unbeobachtet. Ommmmm!!

Es bleibt hier nur unser alter Spruch: Locker mitschwingen und sich nicht wundern. Menschen und Beziehungen haben viele Varianten – solange sie damit nicht unsere Grenzen verletzen, sollten auch wir damit leben können.

Herr O. wird übrigens demnächst in ein Hospiz gehen – wappne mich schon mal für den Anruf der Hospizleitung … 😊

Herzliche Grüße vom Master of Ehe-Desaster

 

„Was tun?“ spricht Zeus, die Welt ist weggegeben,

der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein.

Willst du in meinem Himmel mit mir leben,

So oft du kommst, er soll dir offen sein!

 

Friedrich Schiller – Die Teilung der Erde